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"Brauchst du Hilfe?" fragte
Dewey, als sie eigentlich schon aneinander vorbei waren. Kroll
drehte sich langsam zu Dewey um - er drehte nicht einfach
den Kopf, nein, den ganzen Körper drehte er Dewey zu. Der
Kopf schien steif auf den Schultern zu sitzen.
Kroll schaute Dewey ungläubig
an und sagte schließlich mit schwacher Stimme: "Später vielleicht."
Sie stellten sich einander vor
und Dewey sagte seine Zimmernummer. "Wenn ich etwas für dich
tun kann - du kannst dich an mich wenden."
Es dauerte nur etwa eine dreiviertel
Stunde, bis es an Deweys Zimmertür klopfte. Es war ein ganz
zaghaftes Klopfen. Dewey rief laut "Herein" und dann wurde
ganz sachte die Türe geöffnet. Es war Kroll.
"Komm herein," sagte Dewey.
Aber Kroll blieb auf der Schwelle stehen, und er hielt sich
den Bauch.
Er sagte: "Du hast mir deine
Hilfe angeboten."
Dewey sagte: "Ja, komm herein.
Was kann ich für dich tun?"
Kroll kam nicht herein. Er sagte:
"Wenn du mir nur diese Tabletten kaufen könntest. Das Gehen
strengt mich so an."
Dewey ging ihm zur Türschwelle
entgegen, und Kroll überreichte ihm einen Zettel, auf dem
mit Arzthandschrift etwas geschrieben stand.
"Schmerztabletten," sagte Kroll,
und er gab Dewey eine 20 Peso-Note; "das reicht für fünf Tabletten.
Meine Zimmernummer ist 24."
Dewey kaufte die Tabletten und
brachte sie Kroll ins Zimmer. Dort war es fürchterlich unaufgeräumt.
Auf dem Tisch und auf dem Boden lagen Papiertüten mit Speiseresten
herum. Es gab einen Haufen mit schmutziger Wäsche und es war
ein säuerlicher Gestank in der Luft.
Dewey gab Kroll die Tabletten,
von denen das Stück vier Peso kostete. Kroll, der auf dem
Rand des Bettes saß, schluckte eines dieser Dinger, und er
trank Wasser aus einem halbvollen Glas, das neben dem Bett
auf dem Boden stand.
Dewey rückte einen Stuhl vom
Tisch weg, um nicht ständig dieses Abfalllager vor Augen zu
haben, und setzte sich. Er fragte: "Kommt hier nie jemand
zum Putzen?"
Kroll sagte: "Ja, dreckig hier.
Tut mir leid. Zum Putzen kommt hier niemand. Erst wenn man
auszieht."
Kroll hatte Bauchkrämpfe, und
er verzog das Gesicht. "Oder abkratzt," fügte er noch hinzu,
und er brachte die Zähne dabei fast nicht auseinander.
"Dir geht's mies?" fragte Dewey,
und er schüttelte dabei kurz den Kopf.
"Du bist aufgeschmissen, wenn
du hier krank wirst," sagte Kroll. "Und es ist ein Verbrechen,
wenn dir dann noch das Geld ausgeht."
Kroll war nur mit hellblauen
Unterhosen bekleidet, und er legte sich jetzt hin und zog
die Knie an. Dewey hatte Ausblick auf ein Paar dünne, blondbehaarte
Beine. Dazwischen quoll ein lascher Sack aus den Unterhosen,
deren Gummibänder ausgeleiert waren.
"Wie lang hängst du hier schon
herum?" fragte Dewey.
"Der wievielte ist denn heute?"
fragte Kroll.
"Der 25. oder 26. November."
"Seit Mitte Oktober."
"Die ganze Zeit in dieser Bude?"
"Ich hab keine Energie, was
anderes zu suchen."
"Kann ich verstehen."
"Drum kümmert's mich auch nicht,
wie es hier aussieht."
"Na klar," sagte Dewey.
Eine kurze Weile sagten sie
beide nichts. Dann meinte Kroll: "Wenn du krank bist, merkst
du erst, wie alles auf deine Gesundheit ankommt. Dann weißt
du erst, was wichtig ist im Leben. Die Weiber kommen dann
ganz zuletzt."
"Was hast du denn?" fragte Dewey.
"Na ja, Darminfektion," sagte
Kroll.
"Typhus?"
"Was weiß ich. Die Ärzte sagen
einem ja nichts. Die treiben ja Versteckspielen mit einem.
Die wollen nur, daß man nach drei Tagen wieder zu einer Konsultation
kommt. Dann können sie eine neue Rechnung schreiben. Wie sich
der Patient fühlt, ist denen doch egal. Dem Arzt tut ja nichts
weh. Der klopft dir nur auf die Schultern und sagt: Probieren
Sie mal dieses Mittel oder jenes, und melden Sie sich in drei
Tagen wieder."
"So sind die eben," sagte Dewey.
Kroll sagte: "Ich habe überhaupt
den Verdacht, daß die Ärzte dir die wirksamsten Mittel gar
nicht verschreiben. Ist doch klar. Der Arzt hat ja nichts
davon, wenn du gesund wirst. Der verdient nur an dir, solange
du krank bist. Der hat ein ganz hartes Interesse daran, daß
es Kranke gibt. Und dann stellt er dir eine unverschämte Rechnung,
und wenn du sagst, das sei aber teuer, dann klopft er dir
auf die Schulter und sagt: Für die Gesundheit kann einem nichts
zu teuer sein. Das ist so ein Satz, der paßt einem Arzt ganz
blendend in die Geschäftspolitik."
"Schlimm, wenn man auf sie angewiesen
ist," sagte Dewey.
Kroll sagte: "Und mit dem Hotelbesitzer
ist es dasselbe. Der will auch nicht, daß ich gesund werde.
Der hat Angst, das ich mir ein anderes Hotel suche, sobald
ich gesund bin. Oder diese Stadt überhaupt verlasse. Der lebt
mit seiner Tochter seit über einem Monat eigentlich nur von
mir. Sonst zieht ja niemand hier ein. Du bist eine Ausnahme.
Drum will er auf keinen Fall, daß ich gesund werde. Das beste,
was diesem Hotelbesitzer passieren konnte, wäre, daß ich eines
Morgens tot im Bett liege. Dann könnte er mich in aller Ruhe
ausplündern. Wahrscheinlich muß ich noch froh sein, daß er
seinem Glück nicht nachhilft."
"Ein übler Vogel," sagte Dewey.
"Aber wenn du ihm als Gast so wichtig bist - warum schickt
er dann nicht wenigstens hin und wieder jemanden zum Aufräumen?"
"Wen soll er denn zum Aufräumen
schicken. Der hat doch niemand."
Kroll hatte wieder einen Bauchkrampf.
Es war nicht so schlimm wie vorher. Kroll sagte: "Wenn ich
eines gelernt habe, die letzten Wochen, dann das: es hilft
dir niemand, wenn du in der Scheiße sitzt. Jeder will nur
seinen Vorteil aus deiner Notlage ziehen. Es gibt überhaupt
niemanden, der einem hilft."
"Was ist denn mit deinen Eltern?"
fragte Dewey.
"Die halten mich sowieso für
einen mißratenen Sohn. Mein Vater hat mir versprochen: er
redet erst wieder mit mir, wenn ich mein Studium fortsetze.
Tiefbau, so ein Käse. Und was meine Mutter gesagt hat, hab
ich noch genau im Ohr: Was muß der Bub auch auf die Philippinen.
Italien, das könnte man ja noch verstehen. Aber Philippinen.
Warum denn nicht gleich zu die Neger."
Über Krolls Eltern wollte sich
Dewey nicht äußern. Es herrschte wieder für eine kurze Weile
Ruhe. Es war etwa halb zwölf. Dewey sagte: "Gehen wir zusammen
zum Essen?"
Kroll überlegte einen Moment.
Dann sagte er: "Na ja, in Begleitung wird es gehen. Viel mehr
als Reis kann ich allerdings nicht essen. Schonkost."
Kroll stand auf, und er stieg
in Jeans, die mächtig an ihm schlotterten, denn er war sehr
abgemagert. Er zog sich ein Hemd an, aber er knöpfte es nur
halb zu, und er trug es über der Hose. Unter dem Kissen nahm
er einen Brustbeutel hervor und er hängte ihn sich um den
Hals.
Kroll und Dewey gingen die Treppe
hinunter und auf die Straße. Kroll war sehr langsam. Auf der
Straße legte er eine Hand auf Deweys Schulter, um sich abzustützen.
Mit der anderen Hand hielt er sich den Bauch. Sie aßen in
einem Restaurant um die Ecke, das International Restaurant
hieß. Es gab trotzdem nur philippinische Küche.
Am nächsten Morgen sah Dewey
sich nach einem anständigen Hotel um. Er ging außerdem in
einer Apotheke vorbei und kaufte 100 ml Chloroform in einer
kleinen, rotbraunen Flasche. Es kostete 18,80 Peso, und ansonsten
stellte die Verkäuferin keine Anforderungen oder Fragen an
Dewey.
Gegen 10 Uhr ging er zurück
in die Florentine Lodge und suchte Oswald Kroll in
dessen Zimmer auf. Kroll lag in Unterhosen auf dem Bett und
hielt sich den Bauch.
"Ich habe ein besseres Hotel
ausfindig gemacht," sagte Dewey.
"Und wie heißt das?" fragte
Kroll.
"Mandarin."
"Kenn ich nicht."
"Steinbau. Nicht so muffig
wie hier. Große Zimmer."
"Und wie teuer?"
"Wie hier. 60 das Doppelzimmer.
Gehört einem Chinesen. Wird geputzt."
"Ziehst du um?"
"Ich schlag vor, wir nehmen
zusammen ein Zimmer. Kommt billiger," sagte Dewey.
"Wie lange bleibst du noch in
Bacolod?"
"Na ja, zwei Wochen vielleicht.
Du brauchst ja auch jemanden, der sich um dich kümmert. Ich
kann schon bleiben, bis es dir besser geht."
"Nett von dir, wirklich nett.
Es gibt doch noch hilfsbereite Menschen."
"Ist doch klar. Ich war auch
schon in Situationen, in denen ich ohne Freund aufgeschmissen
gewesen wäre."
"So klar ist das nicht. Wenn
du drin hängst in der Scheiße - die meisten lassen dich hängen.
So schnell findest du keinen, der dir hilft," sagte Kroll.
"Na ja, solche gibt es natürlich
auch. Aber ich finde, wir Ausländer müssen zusammenhalten."
"Das sagst du so daher: wir
Ausländer müssen zusammenhalten. Aber wenn du einen Freund
brauchst, findest du keinen. Außer dir vielleicht. Du bist
da anders - du bist eben noch ein kameradschaftlicher Typ."
"Ist doch eine Selbstverständlichkeit."
Kroll bekam einen Bauchkrampf.
Es schien ihm ganz ordentlich die Eingeweide zusammenzuziehen.
Er verkniff das Gesicht und dann beugte er sich übers Bett
und spuckte eine dünne, säuerliche Brühe in den blauen Plastikeimer,
der eigentlich als Papierkorb diente. Vom Kotzen kam der Gestank,
der immer um Kroll herum war.
"Ich sehe schon: du brauchst
wirklich Pflege," sagte Dewey.
"Mir ist, als ginge ich bald
vor die Geier," sagte Kroll.
Dewey überzeugte Kroll, daß
es für ihn das beste sei, möglichst bald aus diesem finsteren
Loch in der Florentine Lodge auszuziehen. Er ließ sich
von Kroll dessen Paß geben, um gleich das Einchecken im Mandarin
zu erledigen. Dann holte Devey einen Handkoffer aus seinem
Zimmer und ging vor zur Rezeption, um für die zwei Nächte
zu bezahlen, die er in diesem Hotel geschlafen hatte.
Die Rezeption war nicht besetzt.
Dewey rief ein paar Mal durchs Haus, und dann kam schließlich
die Tochter des Besitzers aus der Waschküche hochgekrochen.
Dewey konnte aber nicht bei ihr bezahlen. Vielmehr rief nun
die Tochter nach ihrem Vater, und der kam nach einiger Zeit
durch einen Hintereingang hustend ins Haus.
"Sie verlassen uns schon?" fragte
der Besitzer, der wieder nur in Hosen und Unterhemd gekleidet
war.
"Ja," sagte Dewey.
"Warum? Gefällt es Ihnen nicht
in meinem Haus?"
"Doch, doch, sehr schön. Aber
ein Landsmann, der hier in der Stadt wohnt, hat mich eingeladen,"
entschuldigte sich Dewey.
Das Mandarin war ein
schlichter Bau. An der Rezeption saßen zwei chinesische Mädchen.
Beide waren nicht hübsch. Dewey gab ihnen Krolls Paß und verlangte
das Zimmer, das er am Morgen angeschaut hatte. Er sagte nicht,
daß es nicht sein eigener Paß war.
Dewey hatte mit dem Paßbild
überhaupt keine Ähnlichkeit. Wahrscheinlich aber sahen für
die chinesischen Fräuleins alle Europäer gleich aus, so wie
für Europäer alle Schwarzen gleich aussehen. Keine der beiden
kam auf die Idee, der Paß könne jemand anderem als Dewey gehören.
Sie stellten keine Fragen. Sie trugen die Daten aus dem Paß
in ein großes Buch ein und gaben ihn Dewey zurück. Dewey brachte
seine Sachen hinauf.
Das Zimmer hatte die Nummer
32 und lag zur Straße. Es war nur mit zwei Betten einem kleinen
Tisch und zwei Stühlen möbliert. Es gab keine Bilder an den
Wänden, und der Boden war nur aus Zement. Es war nicht wohnlich,
aber es roch nach nichts, und es gab auch keine Ritzen, in
denen Kakerlaken hausten. Es hatte ein eigenes Bad mit einem
WC. Zwar gab es keine richtige Dusche, sondern nur einen hohen
Wasserhahn, es lief nur kaltes Wasser, und das Klo hatte keine
Brille; aber dieses Badezimmer war gekachelt, und es gab einen
richtigen Abfluß im Boden. Für 60 Peso konnte man wirklich
zufrieden sein.
Dewey packte ein paar Sachen
aus seinem Koffer und ging dann zu Kroll ins Florentine
zurück. Kroll lag dort immer noch auf dem Bett. Er hatte
noch nichts gepackt. Es war zuviel Anstrengung für ihn. Dewey
gab Kroll den Paß zurück. Dann stopfte er Krolls Zeug in eine
Reisetasche. Kein einziges Wäschestück war sauber.
"Mußt du noch bezahlen?" fragte
Dewey.
"Die letzten vier Nächte. Wenn
du hier nach einer Woche nicht bezahlst, wirft der Besitzer
dich raus. So ein mieses Hotel ist das," sagte Kroll. Sie
gingen zur Rezeption hinunter, und es dauerte wieder eine
Weile, bis der Besitzer auftauchte.
"Gefällt es Ihnen plötzlich
nicht mehr bei mir?" fragte er mißtrauisch Kroll.
"Er kommt mit zu meinem Landsmann,"
sagte Dewey. "Mein Freund braucht Pflege - das sehen Sie ja
wohl."
"Sie habe ich nicht gefragt,"
sagte der Hotelbesitzer zu Dewey.
Im Mandarin sparten sie
sich einen Aufenthalt an der Rezeption. Sie gingen gleich
ins Zimmer hoch, und die chinesischen Fräuleins wunderten
sich, wie schlecht der Gast ausah, den Dewey, den sie für
Kroll hielten, mitbrachte.
Oswald Kroll
Dewey war doch nicht der einzige
Gast im Florentine. Es gab da noch einen hageren Deutschen,
der, wie Dewey später erfuhr, Oswald Kroll hieß. Sie begegneten
sich am nächsten Morgen, als Dewey vom Bad, das im oberen
Stockwerk lag, zu seinem Zimmer zurückkehrte. Kroll, der Mitte
Zwanzig sein mochte, schlich an der Wand des Hotelganges entlang.
Er machte nur kleine Schritte, und er ging gebückt und hatte
ein fahles Gesicht. Mit einer Hand glitt er an einer Zierleiste
entlang, die in Geländerhöhe an der Wand angebracht war, mit
der anderen hielt er sich den Bauch. Kroll war krank.